Deutscher Wettbewerb I
MATERIAL UND LEERE
Leerstellen sind Gruben der Unbestimmtheit, bilden Schwellen, an denen Werk und Rezeption sich die Verantwortung für den Sinn aufteilen. Die Arbeiten, die in diesem Programm versammelt sind, nähern sich Funktion und Ästhetik dieser Leerstellen an, sie inszenieren Lücken und leuchten Löcher aus.
Sie beziehen sich auf das, was sich entzieht: auf erlebte Kindheit, auf kultivierte Natur, auf die Verstorbenen oder auf moralische Makellosigkeit. Für Augenblicke kippt hier perzeptives Nichts in imaginäres Etwas, gesteuert von Spuren materieller Darstellung. So treffen analog abgespeicherte Spektren des Sonnenlichts auf digital durchdrungene Dunkelheit, fotokopierte Skizzen begegnen Körpersphären in Infrarot.
Zusammen inszenieren die Arbeiten damit materielle Brüche, die nicht zuletzt auf die Gemachtheit der Bilder verweisen. In der visuellen Formgebung der Leere lehnt sich das Programm damit auch gegen die Unzulänglichkeit der Sinne auf: Als Negativ des Zeigens dient hier gerade das Ausgelassene dem Erzählen.– Max Richter
Deutscher Wettbewerb II
A MAN ESCAPED
Gefangen sein. Das bedeutet: eingeschlossen sein, inhaftiert, aber auch besessen, gefesselt oder fasziniert. Von einem Blick, von einem Kunstwerk, von der Anziehung zu einem Menschen. Eingeschränkt in persönlichen Strukturen, der eigenen Identität, in den festgefahrenen Handlungsweisen der persönlichen Beziehungen. Und dann wiederum frei, obwohl vielleicht die Bewegungsfähigkeit eingeschränkt ist.
Die Filme in diesem Programm reflektieren eben dieses Wechselspiel zwischen Freiheit und Gefangenschaft. Sie zeigen dabei Menschen, die tatsächlich den Alltag im Gefängnis erleben. Aber sie zeigen auch, wie sehr uns eine Ideologie, etwa die liberale Marktwirtschaft, oder unsere Identität zu einem Gefängnis werden kann. Und sie zeigen auch die Faszination, die Menschen, die gesellschaftliche Grenzen überschreiten und die wir deswegen in Gefängnisse sperren, auf uns ausüben können. Denn um von etwas gefangen zu sein, muss man nicht im Gefängnis sitzen. – Johannes Duncker
Deutscher Wettbewerb III
GEFESSELT
Die Möglichkeiten mögen endlos erscheinen. Eine unermessliche Weite zu erforschen, ist verlockend. Wir haben alle Zeit der Welt, Dinge auszuprobieren. Oder auch nicht. Es kann sich wie ein Akt von sisyphushafter Größe anfühlen, den notwendigen Schritt zu tun, um sich von angeblichen Beschränkungen zu befreien.
Sie durchdringen, überholen, definieren, umrahmen und kontrollieren alle Ereignisse und Begegnungen. Gefangen in diesen sich wiederholenden, situationsabhängigen Tagesrhythmen, unfähig, sich über einen von uns selbst entworfenen Rahmen hinaus zu bewegen, scheint die Neigung zur Flucht geradezu prädestiniert. Eine Frage der Haltung im wahrsten Sinne des Wortes.
Dieses Kurzfilmprogramm erkundet Möglichkeiten, wie man dieses Rätsel durchbrechen kann. An zwei Orten zur gleichen Zeit sein? Vielleicht gibt es eine Chance – einen neuen Lebens(im)puls – wenn man das Außen, die Kraft von außen, nach innen kehrt, wenn man seine Geschichte von der anderen Seite erzählt, während man an Ort und Stelle (dran)bleibt? Der Prozess als eine Möglichkeit, Grenzen aufzulösen. Das unendliche Werk des Lebens – unsere möglicherweise eine und einzig wahre Liebe. – Jennifer Jones
Deutscher Wettbewerb IV
AUF DER SUCHE
›Build the wall!‹ Immer wird es laut, wenn Chauvinismen am Aufmerksamkeitsrad der Gesellschaft drehen: Lärm als Imperativ und Agenda. In diesem Programm versammeln sich Bilder und Erzählungen auf der Suche nach einer Stimme, die nicht einfach zurückschreit. Kontrollierte Lakonie und konzentrierte Stille zeugen hier von einer Bereitschaft zum Widerspruch im doppelten Sinne: Mit der Inszenierung von Ambivalenz und mit der Offenlegung auch eigener Unstimmigkeiten widersprechen sie der Gültigkeit des Gebrülls. So löst sich das Mauerwerk der Meinungen und macht Platz für fragile Spuren der Evidenz und der Empfindung. Leise wird den Zuschauenden das Begehren nach dem Getöse der Empörung, nach der Aufdringlichkeit politisierter Dramatik vorgeführt. Wenn sich hier also wiederholt die Grenzlinie zwischen Ästhetik und Politik einer Fixierung entsagt, dann ist das wohl auch als Angebot zu verstehen: ›Draw the line‹ – ohne Ausrufezeichen. – Max Richter
Deutscher Wettbewerb V
REFRAMING IMAGES
Durch welche Annahmen ist unsere Realität besetzt? Welche Rolle spielen Bilder bei der Kommunikation von Ideen und bei unserer Erfahrung von Welt? Wie kann man einer Wirklichkeit, die immer unfassbarer erscheint, filmisch überhaupt noch habhaft werden?
Wir befinden uns in einem tiefen Pool soziopolitischer Deutungsmöglichkeiten. Räume werden geöffnet und inszeniert. Bewegung findet zwischen Unsichtbarkeit und physischer Präsenz statt. Personen werden zu Figuren. Es wird mit Mitteln des Genres und der Parodie gespielt. In der Übergangszone zum Erwachsenwerden formen Selbstzweifel und Ängste eine Wirklichkeit, die mehr auf Gefühlen als auf Fakten basiert.
Wir sind verletzlich und sollten uns dies behalten. Einsamkeit kann überwunden und Nähe hergestellt werden. Die Chance eines Kurzfilmprogramms besteht darin, dass der Blick frei ist und verschiedene Perspektiven einnehmen kann. Wir laden ein, offen zu bleiben und die eigene Wahrnehmung neu zu justieren. Dadurch wird die Gestaltung einer ungebrauchten neuen Vorstellung möglich. – Nicole Rebmann