Die Laufzeit der vierundzwanzig Filme des diesjährigen Wettbewerbs spannt sich zwischen einhundertachzig und zweitausendsechshundert Sekunden. Eine gewaltige Varianz und eine perzeptive Ausnahmesituation, denn das körperliche Verweilen vor der Leinwand, der Takt verstreichender Herzschläge zwischen Anfang und Ende der wahrgenommenen Stoffe, wird in der Regel über genormte Zeitfenster des kommerziell Verwertbaren reguliert und vereinheitlicht.
Auch wegen dieser fleischgewordenen Sehgewohnheiten erfordert das weite Spektrum der Zeit- einheit, die wir kurz nennen, neben Eifer viel Geduld. Geduld bei der Umsetzung von Ideen in einer Branche, die auf längere Formate gepolt ist und Geduld im Kinosaal, bei der Übersetzung des einzelnen Eindrucks in die Gesamtheit des Gesehenen. Der Kurzfilm scheint sich damit zwei Facetten der Gegenwart – Beschleunigung und Zerstückelung – einzuverleiben und sie künstlerisch umzudeuten: Mit Geduld bestückt tritt er der Zerschleunigung entgegen. – Max Richter
Deutscher Wettbewerb I
IM ZWIELICHT
Die zeitlose Spaltung von Licht und Schatten, von Hell und Dunkel, bildet das Zentrum jeder visuellen Erfahrung und dient auf zweiter Ebene als absolute Metapher, um soziale Kontraste zu verorten, Erkenntnis zu steuern und sittliche Grenzbereiche auszuleuchten. Diese zweifache Spaltung durchzieht das Programm, im eigentlichen wie im uneigentlichen Sinne: Unheimliches leuchtet auf und erlischt, Refugien und Raketen brennen ab, die verfinsterte Sonne schimmert und unsichtbare Grenzen werden gezogen und überschritten. Über eine Tür betreten wir am Anfang diesen filmischen Resonanzraum, ein Stacheldraht zäunt ihn am Ende ab. Dazwischen bilden die sechs Arbeiten gemeinsam ein funkelndes Arrangement aus Schlaglichtern, die aufeinander einstrahlen und einwirken, ohne die jeweils eigene Geschlossenheit aufzugeben – im Zwielicht und mit Klarheit. Wenngleich nicht schablonenhaft erleuchtend, sind sie alle erhellend, auch in ihren dunkelsten Momenten. – Max Richter
TERMINE
14.11.2019 · 19:00 Uhr · FILMFORUM
15.11.2019 · 15:00 Uhr · FILMPALETTE (Wdh.)
Deutscher Wettbewerb II
EYE OF THE BEHOLDER
Unsere Wahrnehmung ist ein sehr subjektiver Vorgang. Geschichten, ob selbst erlebt oder an uns herangetragen, werden meist unvollständig gespeichert. So helfen neue Sichtweisen von außen, das eigene Sehfeld zu erweitern. Die folgenden vier Kurzfilme gehen diesen Versuch ganz unterschiedlich an. CAN’T YOU SEE THEM? – REPEAT. verhandelt ein Trauma aus der Belagerung von Sarajevo mit Hilfe einer technischen Installation. UNTITLED (A REFUSAL OF LEAVE TO LAND) verändert die Perspektive auf Geschehnisse in der Vergangenheit. Historische Ereignisse der deutschen Geschichte verweben sich mit persönlichen Erlebnissen, eventuell auf der Suche nach wiederkehrenden Mustern. In GERICHTSZEICHNER betrachten wir einen Strafprozess, aber eben nicht durch die eigenen Augen, sondern nur durch die Bilder des Zeichners. Die ohnehin ungewöhnliche Veranstaltung eskaliert zunehmend. Und schließlich verdeutlicht F FOR FREAKS mit Hilfe fantastischer Elemente Prozesse von Diskriminierung und Ausbeutung – Eckhard Plöttner
TERMINE
14.11.2019 · 21:00 Uhr · FILMFORUM
15.11.2019 · 21:30 Uhr · FILMPALETTE (Wdh.)
Deutscher Wettbewerb III
RUF DES BILDNISSES
Vera Seberts FLÜSSIGE WESENSZÜGE EINER BILDAPPARATUR setzt den Urton für dieses Programm und «lockt» uns mit abstrakten Symbolen und Codes. In Hannes Langs RIAFN dagegen ist die Kommunikation ganz urtümlich: Die alpine Landschaft dient als Resonanzraum für die «Lockrufe» der Bergbewohner. Ein Echo ertönt auch in den Hügeln einer trockeneren Gegend, in Shady Srours OSLO. Der Wunsch seiner Tochter und das Versprechen von Arbeit setzen einen palästinensischen Tagelöhner in Gang, bis eine unerwartete Begegnung ihn zwingt, um seine Würde zu kämpfen. Aleksandar Radan führt uns mit seinem STECKBRIEF NATUR – FOLGE 1 – DER WALDKAUZ in die Natur. Die vertraute Tonalität der Moderatorenstimme gibt Halt in einer unheimlichen, natürlichen Umgebung. Der Lebensraum der Pandabärin Meng Meng ist hingegen nicht ihr eigener, und sie scheint uns zu rufen, indem sie «aus Protest» rückwärts läuft. PANDA MOONWALK von Kerstin Honeit untersucht, wie protestierende Körper im öffentlichen Raum auf Missstände hinweisen. – Jennifer Jones
TERMINE
15.11.2019 · 19:00 Uhr · FILMFORUM
16.11.2019 · 15:00 Uhr · FILMPALETTE (Wdh.)
Deutscher Wettbewerb IV
IDENTITIES IN TROUBLE
Körper und Gesten werden in Einzelteile zerlegt und neu zusammengepuzzelt. Das Arrangement obskurer Videos legt unser Verhältnis zu Waren offen – kritisch, aber nicht verächtlich. Ein Home-Video aus der Kindheit hilft soziale und kulturelle Strukturen unseres Heranwachsens zu hinterfragen. Hin- und hergerissen zwischen Tradition und eigenen Moralvorstellungen versucht jemand, in der Hochzeitsnacht die richtige Entscheidung zu treffen. Ein Knall am Ende einer wichtigen Klarstellung: «Out & proud» erfordert viel Kraft und Mut, wenn man nicht den Erwartungen der Mehrheit entspricht. Auch die Ausbeutung von Sexarbeiter*innen basiert auf Machtstrukturen. Jede*r spielt eine Rolle. Der Filmemacher bezahlt für die Performance. Eine Fiktion von Wahrheit wird produziert. Wenn die Realität über den Umweg des Bilds ihre Konstruktion preisgibt, findet der Film in der Kurzform zu seiner größten Möglichkeit: den Blick des Zuschauers auf die Welt, die Menschen und ihre Inszenierungen zu schärfen. – Nicole Rebmann
TERMINE
15.11.2019 · 21:00 Uhr · FILMFORUM
16.11.2019 · 17:00 Uhr · FILMPALETTE (Wdh.)
Deutscher Wettbewerb V
ALL PLAY AND NO WORK
Urlaub, das Ferienhaus, ein Minigolfplatz, der Badesee. Orte der Erholung, Orte der Entspannung. Orte der Flucht aus unserem Alltag, unserer Gegenwart – und vielleicht auch vor uns selbst? Wir fahren in den Urlaub und sagen: Entspann dich doch mal – du kannst machen, was du willst; sein, wie du bist. Was ein Druck. Die Orte, an denen wir uns entspannen, an den wir spielen – sie schwanken zwischen scheinbar absoluter Freiheit und einem starren Korsett aus Regeln. Doch was erlaubt uns eigentlich mehr Erholung? Im Spiel sind wir frei, können uns selbst vergessen. Nur brauchen wir dann wieder eine Auszeit, um uns selbst zu finden. Aber was machen wir, wenn das, was wir finden, uns vor neue Fragen, gar unser bisheriges Leben ganz in Frage stellt? Das ist vielleicht ein Risiko, dem wir uns aussetzen müssen. Denn wir brauchen diese Orte der Erholung, um die Monotonie unseres Alltags zu durchbrechen. Erst wenn uns diese Oasen genommen werden, merken wir, was wir verloren haben. – Johannes Duncker
TERMINE
16.11.2019 · 21:00 Uhr · FILMFORUM
17.11.2019 · 15:00 Uhr · FILMPALETTE (Wdh.)